Notizblog: Medien und Behinderung

Zeit für ein Update ...

Grafik Neuronen

Das Spannungsfeld von "Medien und Behinderung" beschäftigt mich schon lange. Auch deshalb, weil ich früher beruflich viel damit zu tun hatte. So war ich etliche Jahre für Vereine aktiv, die inklusive Medienprojekte entwickelten und umsetzten. Gemeinsam mit meinen Kolleginnen organisierte ich mehrere Journalismus- und PR-Lehrgänge für Menschen mit und ohne Behinderungen in Österreich.

Es ging darum, den Teilnehmenden journalistisches Handwerk zu vermitteln und Barrieren im Zugang zu den Kommunikations- und Medienberufen abzubauen. Darüber hinaus sollte die Branche für einen zeitgemäßen und respektvollen Sprachgebrauch sensibilisiert und eine nicht diskriminierende Berichterstattung zum Thema Behinderung gefördert werden.

Begriffe und Denkanstöße

Cover Buch der Begriffe

Wir haben dazu auch verschiedene Empfehlungen und Publikationen herausgebracht, allen voran im Jahr 2003 das Buch der Begriffe — ein Lexikon zu Sprache, Behinderung und Integration — gedacht nicht nur, aber vor allem für interessierte Medienprofis, die sich Fachwissen und Denkanstöße für publizistisches Arbeiten abseits der Klischees holen wollten.

 

Das Nachschlagewerk ist nach wie vor online zu finden, etwa als barrierefreie Textversion im Archiv von bidok, der digitalen Bibliothek zu Behinderung und Inklusion der Universität Innsbruck.

Das Buchprojekt liegt mittlerweile mehr als zwanzig Jahre zurück. Viele Inhalte sind immer noch gültig, doch so manches Update wäre höchst an der Zeit. Denn seither sind neue Begriffe und Sichtweisen hinzugekommen und auch im Medienbereich vielversprechende Initiativen für Inklusion entstanden. Beim Online-Magazin andererseits zum Beispiel arbeiten Journalist:innen mit und ohne Behinderung zusammen.

Laut einer Inklusionsstudie von MediaAffairs aus dem Jahr 2023 sind behinderte Menschen in den österreichischen Massenmedien zwar weiterhin stark unterrepräsentiert. Es gibt aber auch positive Entwicklungen, die erhoben wurden. So präsentieren die Medien nun verstärkt Rolemodels, außerdem wird Aspekten der Barrierefreiheit, der persönlichen Assistenz und der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen mehr Raum gegeben. Auch meiner Wahrnehmung nach ist in den vergangenen Jahren der mediale Blick auf Behinderung etwas weniger von Defiziten und stereotypen Vorstellungen geprägt und durchaus differenzierter geworden.

Neurodiversität als Trend

Was wir damals bei unseren Projekten noch kaum am Schirm hatten, ist jedenfalls das thematische Spektrum von Neurodiversität. Der relativ neue Fachbegriff steht für die Vielfalt menschlicher Nervensysteme und ein Verständnis von neurobiologischen Unterschieden, die als menschliche Disposition angesehen und respektiert werden. Demnach sind also alle Menschen als neurodivers zu betrachten.

Seinen Ursprung hat das Konzept (siehe z. B. Wikipedia) in der Neurodiversitätsbewegung der späten 1990er-Jahre, die sich gegen die vorherrschende Pathologisierung von Neuro-Minderheiten richtete. Wobei sich der Begriff "Neuro-Minderheiten" auf Personen bezieht, die nicht wie die Mehrheit "neurotypisch", sondern "neurodivergent" sind. 

Der Schirmbegriff Neurodivergenz umfasst verschiedene Menschen, deren Gehirn anders funktioniert und die deshalb ein Spur anders ticken als es den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen entspricht. Das können Personen mit Autismus sein, mit ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Synästhesie oder Hochbegabung. In letzter Zeit gibt es vermehrt Medienberichte und Forschungsarbeiten über neurodivergente Menschen,  doch die Klischeebilder vom empathielosen Autisten oder dem hyperaktiven zappeligen Kind sind natürlich nicht so leicht aus den Köpfen zu bringen.

Bewusstseinsbildung und Aufklärung sind daher auch ein Anliegen von Einrichtungen wie Amazing 15, einer Anlaufstelle in Wien, die neurodivergente Jobsuchende in den Arbeitsmarkt begleitet und vermittelt. Wie es gelingt, die oft verblüffenden Talente und hervorstechenden Fähigkeiten in Unternehmen richtig einzusetzen, ist etwa in einem Artikel auf MeinBezirk.at oder in einem Interview im Magazin Wienerin nachzulesen.

Ob Elon Musk, Greta Thunberg, Influencer:innen auf Instagram oder TikTok ... Heute sprechen diverse Persönlichkeiten öffentlich über ADHS, Autismus oder psychische Probleme. Es finden sich auch vor allem jüngere Nutzer:innen, die in ihren Social-Media-Profilen "neurodivergent" als persönliches Merkmal anführen.

Lost ist nicht verloren ...

In fiktionalen Fernsehformaten spielt Neurodiversität ebenfalls eine mitunter tragende Rolle. Sei es der exzentrische Privatdetektiv Adrian Monk, der besserwisserische Kriminalpsychologie Professor T. oder der sehr britische DI Richard Poole in Death in Paradise ... Es sind humorvoll gezeichnete Figuren, die nicht zuletzt wegen ihrer Macken bei den Zuseher:innen überaus beliebt sind.

Straßenbild Algarve

Ein neueres Beispiel liefert auch die auf Romanen basierenden TV-Krimireihe "Lost in Fuseta". Der aktuelle Zweiteiler „Spur der Schatten“ wurde Anfang April 2024 ausgestrahlt und ist in der ARD Mediathek online verfügbar. 

Protagonist ist der autistische Hamburger Kriminalkommissar Leander Lost (gespielt von Jan Krauter), der im Rahmen eines Austauschprogramms an die schöne Algarve versetzt wurde.

Der Titelheld mit Asperger-Syndrom besitzt ein fotografisches Gedächtnis, kann sich Fakten dauerhaft merken und verfügt über eine blitzschnelle Kombinationsgabe. Gefühle nimmt er aber ganz anders wahr als seine „neurotypischen“ Kolleg:innen und mit der Liebe tut er sich ebenso schwer wie mit den Zwischentönen der Kommunikation, die er nur ungenau entschlüsseln kann.

Aus meiner Sicht ist dieser Krimi ein recht anschauliches Vorbild für Vielfalt und Inklusion in der Mainstream-Unterhaltung, die ja ein breites Publikum anspricht. Besonders gut gefallen hat mir ein Dialog gegen Ende des Films, weil die Szene eine Perspektive aufzeigt, dass Kommissar Lost im Kreise seines portugiesischen Ermittlerteams doch nicht verloren ist. 

Lost sagt da leise und nachdenklich: "Ich, ich betrachte mich nicht als vollständigen, zugehörigen Menschen. Ich bin ein wandelnder Mangel. Und das Schlimme ist: Ich werde es nie ändern können. Deshalb komme ich in punkto Lebensgemeinschaft für einen NT (Anmerkung: Neurotypischen Menschen) niemals in Frage." Daraufhin ruft sein Kollege aufgeregt: "Sie sind kein Mangel! Sie sind eine Bereicherung! Sie Idiot!" Lost wundert sich: "Warum schreien Sie so?" Und der Kollege antwortet laut und heftig: "Weil ich ein verdammter NT bin!"

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